Situation an den Kapitalmärkten
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TULPEN-WAHN IN HOLLAND

Wie die große Gartenhure Investoren verrückt machte

Von Jan Friedmann

Nicht Gold oder Diamanten weckten im Jahr 1637 die Gier holländischer Investoren - sondern Blumen. Ein regelrechter Tulpen-Wahn bescherte der Finanzwelt die erste Spekulationsblase der Geschichte. Sie gilt heute als Prototyp für viele spätere Krisen.

Die Königin der Tulpen trug ihr Haupt hoch, so kamen die leuchtenden Farben noch besser zur Geltung: Blau am Blütenboden, wo der schlanke Stil ansetzte, nach oben übergehend in ein reines Weiß, aus dem blutrote Flammen zur Spitze hin züngelten. "Semper Augustus" tauften die Züchter ihr Wunderwerk. Das Privileg, es in natura betrachten zu dürfen, war nur wenigen Zeitgenossen vergönnt.

Von der seltensten und teuersten Sorte zirkulierten in ganz Holland zeitweilig nur rund ein Dutzend Tulpen-Zwiebeln, und die waren unerschwinglich: 10.000 Gulden verlangten Händler zu Beginn des Jahres 1637 für eine "Semper Augustus", ("Allzeit erhaben"), eine Summe, mit der sich mühelos ein großes Stadthaus an einer der vornehmsten Grachten Amsterdams erwerben ließ.

Es war der Höhepunkt des "Großen Tulpen-Wahns", jener Manie, die als frühe und exemplarische Spekulationsblase in die Wirtschaftsgeschichte eingehen sollte. Im Lauf einiger Monate hatten sich die Preise vervielfacht, zu denen die Tulpen in den Wirtshäusern gehandelt wurden. Im Februar 1637 fielen die Kurse binnen weniger Tage ins Nichts. Viele Menschen waren auf einen Schlag ruiniert: "Edelleute, Kaufleute, Handwerker, Schiffer, Torfträger, Schornsteinfeger, Knechte, Mägde, Trödelweiber, alles war von gleicher Sucht befallen", berichten die Annalen.

Nicht Aktien oder Staatsanleihen, nicht Rinderhälften oder Eisenerz, nein: Blumen hatten die Begierde der Investoren in der damals dynamischsten Volkswirtschaft Europas geweckt. Ein hochsensibles und pflegeintensives Spekulationsobjekt: Es dauert fast so lang wie eine menschliche Schwangerschaft, bis aus einer im Herbst eingepflanzten unscheinbaren Zwiebel im Frühjahr eine blühende Tulpe erwächst. Und eine einfarbige Pflanze überrascht ihren Besitzer bisweilen im Frühjahr mit geflammten, zweifarbigen Blütenblättern. Dafür sorgt das Mosaikvirus - ein im 17. Jahrhundert noch unbekannter, durch Blattläuse übertragener Befall.

Vielleicht war es diese Unberechenbarkeit, mit der die Preziose die Herzen der calvinistisch spröden Niederländer gewann. Ursprünglich eine Wildpflanze in den Hochtälern Zentralasiens, fand die Tulpe ihren Weg über Persien und das Osmanische Reich nach Europa. Der gelehrte Humanist und bedeutende Botaniker Carolus Clusius trug maßgeblich zur Verbreitung der Tulpe in Holland bei, seit er 1593 an die Universität Leiden berufen wurde.

Bald avancierte die Tulpe zur Modeblume der Reichen und Schönen, sie verlieh den Gärten ihrer Besitzer eine Aura von Extravaganz und östlicher Exotik. Ein Statussymbol ganz nach dem Geschmack der Holländer, erlaubte sie doch aufstrebenden Bürgern und Kaufleuten, auf botanisch-bescheidene Art den eigenen Reichtum zur Schau zu stellen. Exklusiv war das Luxusgut im Beet obendrein: Eine Tulpen-Mutterzwiebel bringt nur wenige Brutzwiebeln hervor, die Pflanze kann nicht in kurzer Zeit vermehrt werden.

Ein kleiner Kreis von findigen Züchtern befriedigte die anspruchsvolle Nachfrage mit immer neuen und prächtigeren Kreationen. Gefragt waren in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts gleichmäßige Blütenblätter und auffällige Farbmuster. Wie die prächtigsten Blüten aussahen, das zeigten sich die Reichen anhand eigens angefertigter Tulpen-Bücher, in denen die schönsten Sorten im Aquarell ausgemalt waren.

Bald lockten die komfortablen Margen Quereinsteiger und Abenteurer ins Geschäft. Die Tulpe wurde zum Synonym für leicht verdientes Geld. Verkörperte sie nicht schon durch ihre Gestalt den größtmöglichen Kontrast zum entbehrungsreichen Leben der einfachen Leute? Ein Leben, in dem 14 Stunden harter Arbeit an sechs Wochentagen kaum genug einbrachten, um die Mieten in den überfüllten Städten zu bezahlen.

Die Tulpen-Profis lebten hingegen in Saus und Braus, für die Organisatoren der Auktionen fielen reichlich Provisionen ab. Eine zeitgenössische Schrift vermittelt einen Eindruck: "Ich bin auf mehreren Runden gewesen, von denen ich mehr Geld nach Hause brachte, als ich in das Wirthaus mitgenommen hatte. Und dabei habe ich Wein und Bier getrunken, Tabak geraucht, gekochten oder gebratenen Fisch, Fleisch, Hühnchen und Kaninchen sowie zum Abschluss Süßigkeiten gegessen, und das vom Morgen bis um drei oder vier in der Nacht."

Solchen Verheißungen erlagen immer mehr Menschen. Sie vernachlässigten ihre gelernten Berufe und verdingten sich fortan in den Gärtnereien als Tulpen-Händler - oder vertrauten als Kleinanleger den Verheißungen der Edelzwiebel.

Der zunächst ungebrochene Boom schien ihnen recht zu geben und ließ letzte Zauderer als Ewiggestrige erscheinen. 1633 wurde in der Stadt Hoorn bereits ein Haus für drei Tulpen-Zwiebeln verkauft, in den drei Jahren darauf vervielfachten sich die Preise. Die kostbaren Pflanzen wurden nun selbst zur Währung, die Anleger verkauften ihr Hab und Gut und verpfändeten ihre Häuser, in dem sicheren Glauben, dass es in dem Markt immer nur eine Richtung geben werde: nach oben.

Schon während der Hausse fehlte es nicht an Warnzeichen. In den Archiven sind mehrere Fälle von Anlegerbetrug belegt: Manche Händler drehten ihren Kunden als angeblich kostbare Raritäten Tulpen-Zwiebeln an, die sich beim Aufblühen als Allerweltsgewächse entpuppten. Andere versuchten sich an Imitaten teurer Sorten wie der "Viceroy" oder raunten von noch extravaganteren Produkten wie der Schwarzen Tulpe - rein schwarze Blütenblätter zu züchten war schon biologisch unmöglich.

Von 1635 an dealten die Spekulanten mit Tulpen-Derivaten, es gab Anteilsscheine auf Tulpen-Zwiebeln und handelbare Bezugsrechte. Im herkömmlichen Handel wurde die Tulpe kurz nach der Blüte ausgegraben und eingetrocknet, so dass der Käufer sehen konnte, was er im kommenden Jahr von seinem Erwerb zu erwarten hatte. Nun wurden ganzjährig Terminkontrakte abgeschlossen und Zwiebeln gehandelt, die noch in der Erde steckten. Schuldscheine und Schilder in den Beeten wiesen die künftigen Besitzer und das Datum des Bezugs aus.

"Floras Krankenlager"

Die Preisexplosion verlockte zu Zwischengeschäften und Luftbuchungen: Floristen verkauften Tulpen, die sie nicht liefern konnten, an Käufer, die nie die Absicht hatten, diese Zwiebeln einzupflanzen.

Manche Tulpen wechselten zehnmal pro Tag den Besitzer, ohne dass auch nur einer von ihnen die Zwiebel, geschweige denn die Blüte jemals zu Gesicht bekommen hätte. "Windhandel" nannten die Chronisten diese Phase des Booms, doch die Flaute blieb so lange aus, wie immer neues Kapital in den Spekulationskreislauf floss.

Die Katastrophe nahm am ersten Dienstag des Monats Februar im Jahr 1637 ihren Lauf: Bei einer Auktion in einem Schankkollegium von Haarlem konnte der Auktionator die geforderten Preise nicht erzielen und musste Abschläge zugestehen. Diejenigen Investoren, die erst spät eingestiegen waren, fuhren nun plötzlich Verluste ein.

Die Neuigkeit machte die Runden durch alle Schenken der Stadt und bald darauf durchs ganze Land. Immer mehr Besitzer von Tulpen-Zwiebeln wollten schnell verkaufen, die Preise fielen ins Bodenlose. Der durchschnittliche Tulpen-Anleger verzeichnete binnen Wochen ein Minus im Depot von 95 Prozent, die meisten Derivate waren mit einem Schlag völlig wertlos geworden.

Nun hub der Chor derer an, die alles schon immer geahnt hatten und sich nun am Verlust der anderen weideten. Traktate und Flugblätter mit Titeln wie "Floras Krankenlager", "Der Untergang der großen Gartenhure" oder "Schurkengöttin Flora" machten die Runde. Ein zeitgenössisches Bild über den Tulpen-Wahn war erläutert mit dem Satz: "Darstellung des seltsamen Jahres 1637, als der eine und der andere Narr den Plan ausheckte, ohne Fähigkeit reich und ohne Verstand weise zu werden."

Wie in vielen folgenden Finanzkrisen griff die Obrigkeit ein, um das vollständige Chaos zu vermeiden. Die Städte bildeten Schlichtungskommissionen, die festlegten, dass alle offenstehenden vertraglichen Verpflichtungen durch Zahlung von 3,5 Prozent des ursprünglichen Kaufpreises abgegolten werden konnten. Diese Regelung ging zu Lasten der Züchter und sollte dazu dienen, ein Übergreifen der Krise auf andere Wirtschaftssektoren zu vermeiden.

In ihrem Ablauf war der Tulpen-Wahn typisch für viele weitere Krisen: Auf die Phase der Insider, der Kenner und Liebhaber folgte der systematische Ausbau des gewinnträchtigen Sektors, dann das massenhafte Auftreten von Spekulanten mit undurchsichtigen Finanzprodukten und schließlich die Intervention der Ordnungshüter nach dem Crash.

Besonders in Zeiten der Rezession wird die Blase von 1637 immer wieder zum Vergleich herangezogen. Derzeit bietet etwa ein findiger Reiseanbieter seine Spaziergänge durch Amsterdam in der Variante der "Krisentour" an. Sie führt zu einigen Schauplätzen des Tulpen-Wahns, darunter auch zum "Ellendigen Kerkhof": Dort fanden die Selbstmörder ihre letzte Ruhe.


Quelle: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,639504,00.html
Wege entstehen dadurch, dass wir sie gehen.
(Franz Kafka)
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