Unsere Gesellschaft
Der folgende Kommentar aus der FTD bringt zwar keine neuen Erkenntisse, ist aber trotzdem lesenswert.

Zitat:
Schluss mit der Bevormundung

von Claus Hornung

Komasaufen, liegen gelassene Grillkohle, Kriminalität: Verbote sollen alles richten, was nicht funktioniert. Doch sie vertuschen nur die Ursachen - und engen die Freiheit der Mehrheit ein.

Der hamburgische Senat freut sich: Endlich kann man wieder vergnügt auf dem Kiez ausgehen. Dort kam es in der jüngsten Vergangenheit immer wieder zu schlimmen Prügeleien, teilweise mit Schwer- und Schwerstverletzten. Seit vergangenem Wochenende aber braucht niemand mehr Angst zu haben, denn: Glasflaschen sind auf der Reeperbahn seitdem verboten.

Die bestechende Logik dahinter: Wer keine Glasflasche in der Hand hält, kann sie auch niemandem über den Schädel oder ins Gesicht schlagen. Und weil viele Schläger zum Tatzeitpunkt alkoholisiert waren, überlegt man, den öffentlichen Konsum von Alkohol gleich mitzuverbieten.
Bei so viel Bums für die gute Sache bleiben Kollateralschäden nicht aus: Der Kneipengänger, der drinnen nicht rauchen darf, kann nun zum Rauchen draußen sein Bierglas nicht mehr mitnehmen. Harmlose Jugendliche können sich vor dem teuren Klubbesuch kein günstiges Bier von der Tanke mehr gönnen. Aber das lässt sich doch verschmerzen. Schließlich geht es um die Sicherheit. Wer will dagegen etwas sagen?

Erwachsene werden entmündigt

Wäre es nur Hamburg, wären es nur die Glasflaschen - man könnte damit leben. Aber es geht um viel mehr als die Zigarette zum Bier. Es geht darum, dass diese Gesellschaft eine gefährliche Richtung eingeschlagen hat. Es geht darum, dass Populisten und Fanatiker oder ihre harmlosere Variante - die Spaßbremsen - mit Verboten gesellschaftliches Leben regulieren wollen. Dass sie Freiheiten beschneiden, öffentlichen Raum eingrenzen und erwachsene Menschen bevormunden.

Ob in Tübingen, Mannheim, oder Lübeck: Fast täglich wird irgendwo ein neues Verbot eingeführt oder gefordert. Neben dem Glasflaschen- und Alkoholverbot geht es um ein generelles Werbeverbot für Alkohol. Es geht um Grillverbote am Strand, um Rauchverbote auch unter freiem Himmel, um Bierkonsum erst ab 18 Jahren, um Helmpflicht für Ski - und Radfahrer, Essverbot in der U-Bahn, Lärmbeschränkungen für Diskotheken.

Das soll Probleme lösen? Die Fragen sind doch: Wie enthemmt muss ein Mensch sein, damit er einem anderen - wie vor wenigen Jahren in Hamburg - mit einer Glasflasche ein Auge aussticht, weil der ihn "schief angeguckt hat"? Warum halten testosteronübersteuerte Halbstarke Kampfhunde? Und was lief falsch in der Erziehung eines Zwölfjährigen, der sich mit Wodka ins Koma säuft?

Vieles könnte man in diesem Zusammenhang diskutieren. Etwa, dass viele Jugendliche vom Fernseher erzogen werden. Dass dieser Staat einen Fehler beging, indem er von Einwanderern nicht ein Mindestmaß an Integration forderte und so dazu beitrug, dass archaische Vorstellungen von Männlichkeit und Ehre überlebten. Auch die frustrierende berufliche Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher wäre ein Thema. Oder dass Egoismus nicht mehr als schlechte Eigenschaft gilt, sondern als karrierefördernd.
Aber das ist heikel, politisch unkorrekt und viel zu kompliziert. Einfacher ist es, an den Symptomen herumzudoktern: durch ein pauschales Verbot. Der Pudelbesitzer büßt für den Kampfhundehalter mit, der Butterbrot essende U-Bahn-Fahrer für den Halbstarken, der sein Dönerpapier einfach liegen lässt, der ordentliche Grillfreund für den, der seine Kohlen im Park entsorgt. Man gängelt Hunderte, um zehn zu treffen.

Und während immer neue Regeln die Mehrheit einschnüren, zeigen sie bei denen, die gemeint sind, keine Wirkung. Glaubt irgendwer, den Augenausstecher hielte ein Glasflaschenverbot von der nächsten Gewalttat ab? Wäre er friedlich ins Theater gegangen, hätte er bloß keinen Alkohol getrunken? Wechselt der Flatratetrinker zu Tomatensaft, weil die Altersgrenze für Alkoholkonsum heraufgesetzt wird?

Ein risikofreies Leben gibt es nicht

Die Verbotsgläubigen vergessen, dass eine Gesellschaft vieles auch ohne Uniformierte regeln kann. Täglich lässt sich beobachten, wie rücksichtslose Mitbürger ganze U-Bahn-Abteile mit Musik beschallen, Füße auf Sitzbänke legen und auf den Boden spucken. Wer da seinen Rücken gerade und seinen Mund aufmacht, gilt als Spießer. Ist ja nicht meine Aufgabe, denkt die stumm leidende feige Mehrheit. Der Klügere gibt nach - und schreit anschließend nach Verboten.

Die kleine Schwester der Sicherheit ist die Gesundheit. Einige glauben, man könne mit höheren Steuern auf Schokolade und Chips Übergewicht bekämpfen. Als der thüringische Ministerpräsident Dieter Althaus bei einem Skiunfall eine Frau tötete und ins Koma fiel, riefen andere reflexartig nach einer Helmpflicht. Man traut sich kaum entgegenzuhalten, dass Kopfverletzungen nur zehn Prozent aller Skiunfälle ausmachen. Denn es steht zu befürchten, dass die Forderungen erweitert werden: auf Schienbeinschoner und Protektorenjacken.

Ein risikofreies Leben gibt es nicht, und es ist auch nicht erstrebenswert. Erstrebenswert ist eine Gesellschaft, in der erwachsene Bürger selbst Verantwortung tragen und ein Staat im Notfall die Mehrheit vor der Minderheit schützt. Dazu braucht es gesunden Menschenverstand und Augenmaß. Aber die schafft man nicht durch Gesetze.

Aus der FTD vom 24.07.2009
© 2009 Financial Times Deutschland,

Wege entstehen dadurch, dass wir sie gehen.
(Franz Kafka)
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