26.06.2005, 12:00
Sex? Ohne uns!
Kann es normal sein, einfach kein Interesse an Sex zu haben? Und das nicht nur für ein paar Tage oder Wochen, sondern jahrelang? Sein ganzes Leben? Ja, es ist normal, sagen nicht nur all jene Menschen, die freiwillig und glücklich enthaltsam leben, sondern nun auch Experten, die Asexualität als neue sexuelle Orientierung anerkennen
Von Merle Hilbk
Vielleicht ist es kein Zufall, dass ausgerechnet in diesem Jahr ein Zitat des dänischen Nationaldichters Hans Christian Andersen Schlagzeilen machte: »Es ist ein Widerwillen gegen diese Dinge in mir, gegen die sich meine Seele so sträubt.« Mit diesem Satz bekannte sich Andersen öffentlich zu seiner Lustlosigkeit und brach damit Ende des 19. Jahrhunderts ein Tabu, das da hieß: Ein Mann hat Lust zu haben, weil der Beischlaf zum Menschsein gehört wie das Atmen oder das Essen. Damit war Andersen einer der ersten bekennenden Libidolosen der Welt. In Deutschland war es lange Zeit Gesetz, dass ein verheirateter Mann von seiner Frau den Vollzug der Ehe einfordern konnte. Weigerte sie sich, galt das als Scheidungsgrund. Sich der Fleischeslust zu entziehen, das ging nur aus religiösen Gründen, sonst galt es als anormal.
An dieser Einstellung zur Lustlosigkeit hat sich bis heute nicht viel geändert. Im Gegenteil: Wer trotz sexueller Revolution, trotz Schwulenbewegung und der ständigen Präsenz von nackten Körpern in den Medien, trotz der Angebote von Seitensprung-Agenturen, Swinger-Party-Veranstaltern und Sado-Maso-Websites gesteht, dass er kein Interesse am Geschlechtsverkehr hat, wird schnell als verklemmt oder gar als Fall für den Psychologen eingestuft.
Doch nun, im Andersen-Jubiläumsjahr, hat sich eine große Gruppe von Menschen zusammengefunden, die, ähnlich wie der Autor der Kleinen Meerjungfrau, auf geschlechtliche Betätigung verzichten nicht aus moralischen Gründen, sondern schlicht, weil sie nicht wollen. Es sind mehr als 2000 Gleichgesinnte, die nun im Internet, in Zeitungen und im Fernsehen bekennen, was sie empfinden, wenn sie an Cunnilingus und Fellatio, Missionarsstellung oder Analpenetration, an den schnellen Akt im Fahrstuhl oder die lange Nacht im Ehebett denken: nichts. Und diesem »Nichts« nun auch einen Namen gegeben haben: Asexualität.
Den meisten von ihnen geht es freilich nicht um kämpferische Aktionen, sondern darum, für sich selbst akzeptieren zu lernen, was in einer sexualisierten Gesellschaft immer noch als unnormal gilt: keine oder wenig Lust auf Sex zu haben. Und sich darin gegenseitig zu unterstützen. Menschen wie Kati und Mauricio, wie Anja und Sven, die sich in einem Internet-Forum namens Aven (Asexuality Visibility and Education Network, Netzwerk für die Sichtbarkeit von und Aufklärung über Asexualität) kennen gelernt haben, das seit ein paar Monaten auch im deutschsprachigen Netz zu finden ist.
»Es ist nicht einfach, sich in einer Gesellschaft zu bewegen, in der sich alles um Lust dreht und Pillen wie Viagra ewige Potenz versprechen«, sagt Kati, 28, Anglistik- und Informatikstudentin aus Berlin und Mitbegründerin der deutschen Aven-Website. Bereits in der Schule sei ihr klar gewesen, dass sie »irgendwie anders« war als ihre Klassenkameradinnen. »Die haben ständig geflirtet und sind mit 15 zum Frauenarzt gerannt, um sich die Pille verschreiben zu lassen.« Kati war im Orchester, fand dort Freunde, las viel und konnte nicht verstehen, was es war, das die anderen so faszinierte. Nicht, dass sie etwas vermisste »wenn man etwas nicht kennt, hat man auch nicht das Gefühl, etwas zu verpassen« , aber sie fühlte sich als Außenseiterin. Nach dem Abitur analysierte sie ein Therapeut: Dreieinhalb Jahre lang mehrmals in der Woche Gespräche über die Ängste und Probleme, die sie damals hatte: nicht zu genügen, nicht so angenommen zu werden, wie sie war. Ein paar Mal erzählte sie auch von ihrer Lustlosigkeit, doch »die stand in den Gesprächen nie im Vordergrund«. Die Ängste wurden kleiner, die Lustlosigkeit blieb. »Ehrlich gesagt hatte ich auch nie das Gefühl, dass sie mein Problem war. Sie war einfach da, war ein Teil meiner Persönlichkeit, den ich irgendwie akzeptiert habe.«
Mit 23 verliebte sie sich. »Das lief nicht anders als bei anderen auch: Man sieht jemanden, liebt seine Gedanken und seine Träume, fühlt sich wie magisch angezogen, will von ihm berührt, in den Arm genommen werden.« Nur Sex das wollte sie nicht. »Ich wusste einfach, dass ich das Zusammen-Schlafen generell nicht mag, dass es mich sogar ein bisschen ekelt. Auf jeden Fall denke ich, dass man Intimität auch anders ausdrücken kann.« Er habe das akzeptiert, obwohl er »Sexualität eigentlich sehr mochte. Aber ich habe ihm erklärt, dass es nicht an ihm liegt, dass ich keine Lust habe.«
Dass sie ihrer Lustlosigkeit einen Namen geben konnte, hatte Kati ihrer besten Freundin zu verdanken, der sie eines Abends erzählte, wie es um sie stand. »Na, dann bist du halt asexuell!«, hatte die Freundin knapp kommentiert.
Zuerst war Kati verblüfft, dann hatte sie sich an ihren Computer gesetzt und »asexuality« und »low sexual desire« gegoogelt, auf Englisch, denn »in Amerika gibt es oft doch schon Sachen im Netz, worüber in Deutschland noch gar nicht geredet wird«. Nach ein paar Klicks stieß sie auf das 2001 in St. Louis gegründete Aven-Forum, wo sie zum ersten Mal eine Definition für das entdeckte, was ihre Freundin spontan als »asexuell« bezeichnet hatte: Asexuell ist jeder, der sich selbst so empfindet.
Diese Definition scheint geradezu perfekt in eine Zeit zu passen, die der Frankfurter Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch, einer der Pioniere der deutschen Sexualmedizin, als Epoche der »Neosexualitäten« bezeichnet: Geschlechtliche Empfindungen, zuvor »mangels anderer Raster stets einem der drei scheinbar monolithischen Blöcke der Hetero-, der Homosexualität oder der Perversion« zugerechnet, definieren nun selbst Lebensstile ein Prozess »narzisstischer Selbsterfindung«. Da hilft Aven mit Denkmuster-Beispielen auf die Sprünge:
Triebe zu verspüren, aber keine körperliche Anziehung zu anderen Menschen; sich zwar vorstellen zu können, dass Sex sich »auf einer rein biochemischen Ebene vielleicht gut anfühlen würde, aber nicht auf den Gedanken zu kommen, ihn mit einem Partner zu praktizieren«, und zu denken: »Klar, es würde sich vielleicht auch gut anfühlen, sich zum ersten Mal Heroin zu spritzen, aber im Moment habe ich bessere Sachen zu tun.«
Eine Form von sexueller Anziehung durch andere Männer oder Frauen zu verspüren, aber kein Bedürfnis, dieser zu folgen: »Ja, ich liebe dich, aber warum in aller Welt würden wir das machen wollen?«
Sexualtrieb und emotionale Anziehung zu anderen nicht zusammenbringen zu können. Masturbation als durchaus angenehm zu erleben, aber nicht auf die Idee zu kommen, Sex mit einem Partner zu haben.
Oder sich schon vor dem Gedanken an Geschlechtsverkehr zu ekeln und keine Anziehung durch andere Menschen zu empfinden. Im Zusammenhang mit tieferen emotionalen Beziehungen mit Freunden oder Partnern nicht von »Anziehung« zu sprechen, sondern von »Interesse«.
Dass Asexualität mittlerweile öffentlich diskutiert wird, ist einem 22-jährigen Amerikaner zu verdanken, der sich selbst wegen seiner Lustlosigkeit lange als Außenseiter gefühlt hatte: David Jay, jung, ziemlich gut aussehend, aus dem amerikanischen Süden, der mit Frauen tatsächlich einfach nur reden wollte. Bevor er Aven gegründet habe, sei es nahezu unmöglich gewesen, seiner Umwelt klarzumachen, dass mit ihm alles stimme, sagt er. Er selbst habe sich »völlig normal« gefühlt, sei aufs College gegangen, habe Freundschaften geschlossen wie alle anderen auch. Nur dass diese Umgebung ihn nicht ebenso als normal einschätzte, das habe ihn gestört.
Jay, kämpferisch und nicht öffentlichkeitsscheu, beschloss, sein Stigma in eine Berufung zu verwandeln: Er gründete Aven und baute die Website von einer reinen Informationsbörse zu einem Forum aus, mit dem er der Welt beweisen wollte, dass Asexualität ebenso natürlich ist wie Homo- oder Bisexualität. Forumsbesucher konnten T-Shirts mit Aufdrucken wie »No sex, please« und »A-Pride« bestellen, Jay lud Journalisten zum Interview. Nach zwei Jahren hatte Aven 1500 Mitglieder und wurde zum Sprachrohr einer Bewegung. Auch ein Beitrag im renommierten Wissenschaftsblatt New Scientist von diesem Frühjahr geht auf seine Initiative zurück.
Asexualität ist kein neues Phänomen. Neu ist nur die Verwendung des Begriffs«, sagt der Hamburger Sexualforscher Gunter Schmidt, der sich am Universitätsklinikum Eppendorf seit Jahren mit den medizinischen und psychologischen Ursachen von Lustlosigkeit beschäftigt. »Schon Alfred Kinsey hat Ende der 50er Jahre in seinen Studien bewiesen, dass es in der Bevölkerung einen kleinen Prozentsatz an Menschen gibt, die eine geringe Libido haben genauso, wie es einen kleinen Prozentsatz derjenigen gibt, die immer Lust haben«, erläutert Schmidt. Kinsey betonte schon damals, dass die Kategorien »normal« und »anormal« in der Diskussion über Sexualität eigentlich unangebracht sind. Schwul und bisexuell zu sein oder sadomasochistische Spiele zu lieben sei inzwischen gesellschaftlich akzeptiert, nicht zuletzt, weil sich so viele öffentlich dazu bekannt haben. Wer keine Lust habe, hat das bisher meistens mit sich oder seinem Partner allein ausgemacht. Schließlich gab es keine öffentliche Debatte über das Thema. »Debatten gibt es meist erst dann, wenn etwas als gesellschaftliches Problem aufgefasst wird«, sagt Schmidt. Die jetzige werde befördert von der Möglichkeit, im Internet Gleichgesinnte zu finden.
(Teil 1)
Kann es normal sein, einfach kein Interesse an Sex zu haben? Und das nicht nur für ein paar Tage oder Wochen, sondern jahrelang? Sein ganzes Leben? Ja, es ist normal, sagen nicht nur all jene Menschen, die freiwillig und glücklich enthaltsam leben, sondern nun auch Experten, die Asexualität als neue sexuelle Orientierung anerkennen
Von Merle Hilbk
Vielleicht ist es kein Zufall, dass ausgerechnet in diesem Jahr ein Zitat des dänischen Nationaldichters Hans Christian Andersen Schlagzeilen machte: »Es ist ein Widerwillen gegen diese Dinge in mir, gegen die sich meine Seele so sträubt.« Mit diesem Satz bekannte sich Andersen öffentlich zu seiner Lustlosigkeit und brach damit Ende des 19. Jahrhunderts ein Tabu, das da hieß: Ein Mann hat Lust zu haben, weil der Beischlaf zum Menschsein gehört wie das Atmen oder das Essen. Damit war Andersen einer der ersten bekennenden Libidolosen der Welt. In Deutschland war es lange Zeit Gesetz, dass ein verheirateter Mann von seiner Frau den Vollzug der Ehe einfordern konnte. Weigerte sie sich, galt das als Scheidungsgrund. Sich der Fleischeslust zu entziehen, das ging nur aus religiösen Gründen, sonst galt es als anormal.
An dieser Einstellung zur Lustlosigkeit hat sich bis heute nicht viel geändert. Im Gegenteil: Wer trotz sexueller Revolution, trotz Schwulenbewegung und der ständigen Präsenz von nackten Körpern in den Medien, trotz der Angebote von Seitensprung-Agenturen, Swinger-Party-Veranstaltern und Sado-Maso-Websites gesteht, dass er kein Interesse am Geschlechtsverkehr hat, wird schnell als verklemmt oder gar als Fall für den Psychologen eingestuft.
Doch nun, im Andersen-Jubiläumsjahr, hat sich eine große Gruppe von Menschen zusammengefunden, die, ähnlich wie der Autor der Kleinen Meerjungfrau, auf geschlechtliche Betätigung verzichten nicht aus moralischen Gründen, sondern schlicht, weil sie nicht wollen. Es sind mehr als 2000 Gleichgesinnte, die nun im Internet, in Zeitungen und im Fernsehen bekennen, was sie empfinden, wenn sie an Cunnilingus und Fellatio, Missionarsstellung oder Analpenetration, an den schnellen Akt im Fahrstuhl oder die lange Nacht im Ehebett denken: nichts. Und diesem »Nichts« nun auch einen Namen gegeben haben: Asexualität.
Den meisten von ihnen geht es freilich nicht um kämpferische Aktionen, sondern darum, für sich selbst akzeptieren zu lernen, was in einer sexualisierten Gesellschaft immer noch als unnormal gilt: keine oder wenig Lust auf Sex zu haben. Und sich darin gegenseitig zu unterstützen. Menschen wie Kati und Mauricio, wie Anja und Sven, die sich in einem Internet-Forum namens Aven (Asexuality Visibility and Education Network, Netzwerk für die Sichtbarkeit von und Aufklärung über Asexualität) kennen gelernt haben, das seit ein paar Monaten auch im deutschsprachigen Netz zu finden ist.
»Es ist nicht einfach, sich in einer Gesellschaft zu bewegen, in der sich alles um Lust dreht und Pillen wie Viagra ewige Potenz versprechen«, sagt Kati, 28, Anglistik- und Informatikstudentin aus Berlin und Mitbegründerin der deutschen Aven-Website. Bereits in der Schule sei ihr klar gewesen, dass sie »irgendwie anders« war als ihre Klassenkameradinnen. »Die haben ständig geflirtet und sind mit 15 zum Frauenarzt gerannt, um sich die Pille verschreiben zu lassen.« Kati war im Orchester, fand dort Freunde, las viel und konnte nicht verstehen, was es war, das die anderen so faszinierte. Nicht, dass sie etwas vermisste »wenn man etwas nicht kennt, hat man auch nicht das Gefühl, etwas zu verpassen« , aber sie fühlte sich als Außenseiterin. Nach dem Abitur analysierte sie ein Therapeut: Dreieinhalb Jahre lang mehrmals in der Woche Gespräche über die Ängste und Probleme, die sie damals hatte: nicht zu genügen, nicht so angenommen zu werden, wie sie war. Ein paar Mal erzählte sie auch von ihrer Lustlosigkeit, doch »die stand in den Gesprächen nie im Vordergrund«. Die Ängste wurden kleiner, die Lustlosigkeit blieb. »Ehrlich gesagt hatte ich auch nie das Gefühl, dass sie mein Problem war. Sie war einfach da, war ein Teil meiner Persönlichkeit, den ich irgendwie akzeptiert habe.«
Mit 23 verliebte sie sich. »Das lief nicht anders als bei anderen auch: Man sieht jemanden, liebt seine Gedanken und seine Träume, fühlt sich wie magisch angezogen, will von ihm berührt, in den Arm genommen werden.« Nur Sex das wollte sie nicht. »Ich wusste einfach, dass ich das Zusammen-Schlafen generell nicht mag, dass es mich sogar ein bisschen ekelt. Auf jeden Fall denke ich, dass man Intimität auch anders ausdrücken kann.« Er habe das akzeptiert, obwohl er »Sexualität eigentlich sehr mochte. Aber ich habe ihm erklärt, dass es nicht an ihm liegt, dass ich keine Lust habe.«
Dass sie ihrer Lustlosigkeit einen Namen geben konnte, hatte Kati ihrer besten Freundin zu verdanken, der sie eines Abends erzählte, wie es um sie stand. »Na, dann bist du halt asexuell!«, hatte die Freundin knapp kommentiert.
Zuerst war Kati verblüfft, dann hatte sie sich an ihren Computer gesetzt und »asexuality« und »low sexual desire« gegoogelt, auf Englisch, denn »in Amerika gibt es oft doch schon Sachen im Netz, worüber in Deutschland noch gar nicht geredet wird«. Nach ein paar Klicks stieß sie auf das 2001 in St. Louis gegründete Aven-Forum, wo sie zum ersten Mal eine Definition für das entdeckte, was ihre Freundin spontan als »asexuell« bezeichnet hatte: Asexuell ist jeder, der sich selbst so empfindet.
Diese Definition scheint geradezu perfekt in eine Zeit zu passen, die der Frankfurter Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch, einer der Pioniere der deutschen Sexualmedizin, als Epoche der »Neosexualitäten« bezeichnet: Geschlechtliche Empfindungen, zuvor »mangels anderer Raster stets einem der drei scheinbar monolithischen Blöcke der Hetero-, der Homosexualität oder der Perversion« zugerechnet, definieren nun selbst Lebensstile ein Prozess »narzisstischer Selbsterfindung«. Da hilft Aven mit Denkmuster-Beispielen auf die Sprünge:
Triebe zu verspüren, aber keine körperliche Anziehung zu anderen Menschen; sich zwar vorstellen zu können, dass Sex sich »auf einer rein biochemischen Ebene vielleicht gut anfühlen würde, aber nicht auf den Gedanken zu kommen, ihn mit einem Partner zu praktizieren«, und zu denken: »Klar, es würde sich vielleicht auch gut anfühlen, sich zum ersten Mal Heroin zu spritzen, aber im Moment habe ich bessere Sachen zu tun.«
Eine Form von sexueller Anziehung durch andere Männer oder Frauen zu verspüren, aber kein Bedürfnis, dieser zu folgen: »Ja, ich liebe dich, aber warum in aller Welt würden wir das machen wollen?«
Sexualtrieb und emotionale Anziehung zu anderen nicht zusammenbringen zu können. Masturbation als durchaus angenehm zu erleben, aber nicht auf die Idee zu kommen, Sex mit einem Partner zu haben.
Oder sich schon vor dem Gedanken an Geschlechtsverkehr zu ekeln und keine Anziehung durch andere Menschen zu empfinden. Im Zusammenhang mit tieferen emotionalen Beziehungen mit Freunden oder Partnern nicht von »Anziehung« zu sprechen, sondern von »Interesse«.
Dass Asexualität mittlerweile öffentlich diskutiert wird, ist einem 22-jährigen Amerikaner zu verdanken, der sich selbst wegen seiner Lustlosigkeit lange als Außenseiter gefühlt hatte: David Jay, jung, ziemlich gut aussehend, aus dem amerikanischen Süden, der mit Frauen tatsächlich einfach nur reden wollte. Bevor er Aven gegründet habe, sei es nahezu unmöglich gewesen, seiner Umwelt klarzumachen, dass mit ihm alles stimme, sagt er. Er selbst habe sich »völlig normal« gefühlt, sei aufs College gegangen, habe Freundschaften geschlossen wie alle anderen auch. Nur dass diese Umgebung ihn nicht ebenso als normal einschätzte, das habe ihn gestört.
Jay, kämpferisch und nicht öffentlichkeitsscheu, beschloss, sein Stigma in eine Berufung zu verwandeln: Er gründete Aven und baute die Website von einer reinen Informationsbörse zu einem Forum aus, mit dem er der Welt beweisen wollte, dass Asexualität ebenso natürlich ist wie Homo- oder Bisexualität. Forumsbesucher konnten T-Shirts mit Aufdrucken wie »No sex, please« und »A-Pride« bestellen, Jay lud Journalisten zum Interview. Nach zwei Jahren hatte Aven 1500 Mitglieder und wurde zum Sprachrohr einer Bewegung. Auch ein Beitrag im renommierten Wissenschaftsblatt New Scientist von diesem Frühjahr geht auf seine Initiative zurück.
Asexualität ist kein neues Phänomen. Neu ist nur die Verwendung des Begriffs«, sagt der Hamburger Sexualforscher Gunter Schmidt, der sich am Universitätsklinikum Eppendorf seit Jahren mit den medizinischen und psychologischen Ursachen von Lustlosigkeit beschäftigt. »Schon Alfred Kinsey hat Ende der 50er Jahre in seinen Studien bewiesen, dass es in der Bevölkerung einen kleinen Prozentsatz an Menschen gibt, die eine geringe Libido haben genauso, wie es einen kleinen Prozentsatz derjenigen gibt, die immer Lust haben«, erläutert Schmidt. Kinsey betonte schon damals, dass die Kategorien »normal« und »anormal« in der Diskussion über Sexualität eigentlich unangebracht sind. Schwul und bisexuell zu sein oder sadomasochistische Spiele zu lieben sei inzwischen gesellschaftlich akzeptiert, nicht zuletzt, weil sich so viele öffentlich dazu bekannt haben. Wer keine Lust habe, hat das bisher meistens mit sich oder seinem Partner allein ausgemacht. Schließlich gab es keine öffentliche Debatte über das Thema. »Debatten gibt es meist erst dann, wenn etwas als gesellschaftliches Problem aufgefasst wird«, sagt Schmidt. Die jetzige werde befördert von der Möglichkeit, im Internet Gleichgesinnte zu finden.
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